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18. Januar 2024

„Innenstädte werden sich rasant verändern – und das ist gut so!"

BEITRAG VON MARKETING-UND EINZELHANDELSEXPERTE DR. MARC SCHUMACHER (AVANTGARDE GROUP) FÜR DAS NEUE HI HEUTE-BUCH „TRANSFORMATION INNENBSTADT – DER GROSSE WANDEL"
Dr. Marc Schumacher (CEO der Avantgarde Group)
Foto: Avantgarde Group
Auf Märkten, wie dem Münchner Viktualenmarkt, kaufen Menschen nicht nur ein, sie treffen sich auch und tauschen sich aus.
Foto: Adobe Stock

Die Online-Shopper sind für die Verödung der Innenstädte verantwortlich. Der stationäre Einzelhandel braucht dringend lebensverlängernde Maßnahmen, sonst herrscht bald Totentanz in deutschen Citys. Dieses Narrativ wird heute immer noch vielfach beschworen. Und auch im Untertitel zu dieser Publikation wird die Frage gestellt, wie „unsere lebendigen Marktplätze gerettet werden können“. 

Wenn wir die geeigneten Maßnahmen zur Belebung unserer Innenstädte ergreifen wollen, sollten wir uns an dieser Stelle ehrlich machen: Sind die Shoppingmeilen der Städte wirklich so bunt und pulsierend, dass sie sich mit den traditionellen Marktplätzen vergleichen lassen, die in vergangenen Jahrhunderten das vitale Zentrum einer Stadt ausgemacht haben?   

Déjà-vu in der Fußgängerzone – eine Monokultur des Konsums

Gehen Sie gedanklich mal durch eine Fußgängerzone in Ihrer Nähe. Was sehen Sie? Eine Monokultur des Konsums. In den Fußgängerzonen Europas herrscht überall die gleiche gähnende Langeweile: Ein Déjà-vu von Stores, die mit hohem Warendruck versuchen, Menschen zum Kaufen zu bewegen, die alles längst doppelt und dreifach besitzen. Der Expansionsdrang der großen Filialketten in Kombination mit exorbitanten Mietpreisen hat in den vergangenen Jahrzehnten den Einkaufsstraßen unserer Städte jegliche Individualität geraubt. 

Dann kam die Pandemie, und die Verbraucher lernten schnell, dass man weder zum Einkaufen noch für den Bürojob die Wohnung verlassen muss. Corona ist nicht die Ursache für die Krise der Innenstädte. Es hat allerdings in vielen Bereichen als Brandbeschleuniger gewirkt, vor allem in jenen, die auch zuvor schon mit strukturellen Problemen zu kämpfen hatten. Das Virus sorgte bei zahlreichen Online-Services und -Segmenten für Tipping Points, die zu einer nachhaltigen Verhaltensänderung in der gesamten Bevölkerung geführt haben. 

Bedarfsdeckung? Dafür muss keiner mehr vor die Tür

Online-Fitness, Video on Demand, Konzert-Streaming, Remote Work, Online-Shopping, Home Delivery – all diese Services haben sich mittlerweile bei vielen Menschen als neue Gewohnheiten etabliert. Weil sie Geld, Nerven und Zeit sparen, für mehr Auswahl, Transparenz und Bequemlichkeit sorgen. Das ist nicht bedauerlich oder ethisch bedenklich, sondern naheliegend und sinnvoll. Um die Leute aus den eigenen vier Wänden zu locken, damit sie zum Beispiel zum Arbeiten ins Büro kommen, in einem physischen Store einkaufen oder ins Kino gehen, muss man sich heute und in Zukunft andere Mehrwerte einfallen lassen als Funktionalität und Bedarfsdeckung.

Raus aus der Logikblase der Algorithmen

Wird es in 25 Jahren noch Filialen von H&M, Douglas und Zara in der Innenstadt geben? Da würde ich nicht drauf wetten. Überzeugt bin ich dagegen, dass auch in einem Vierteljahrhundert noch Menschen über den Münchner Viktualienmarkt und den Hamburger Isemarkt schlendern werden. Der Marktplatz war und ist ein Ort, an dem Menschen nicht nur eingekauft, sondern sich auch getroffen und ausgetauscht haben. Das Bedürfnis nach echten Begegnungen und Erlebnissen ist unverändert hoch. Gerade die Digital Natives lieben Orte, die sie aus der Logikblase der Algorithmen befreien und sie mit dem Unerwarteten, Zufälligen überraschen. Ich bin überzeugt: Unsere Innenstädte haben eine großartige Zukunft. Aber nur, wenn wir die Chance für einen mutigen Neuanfang nutzen, anstatt nostalgisch an ausgedienten Konzepten festzuhalten. 

Der Retail muss sich den Marktplatz zurückerobern

Wenn heute vom Marktplatz die Rede ist, denken wir automatisch an Digitalplattformen wie Amazon oder Ebay. Der stationäre Handel muss sich diesen so emotional besetzten Begriff schnellstens wieder zurückerobern. Der Marktplatz gehört in den physischen Raum, weil er alle Sinne anspricht und einen Platz für menschliches Miteinander – auch jenseits von Konsum – bietet. Ein Alleinstellungsmerkmal, mit dem der Online-Handel nicht konkurrieren kann. Retail, dem es gelingt, das Prinzip des Marktplatzes in die Gegenwart zu übersetzen, kann der Neustart glücken. 

Der Store wird zur Bühne, zum Campus, zum Club 

Dass Kunden den physischen Store als Showroom zur Inspiration nutzen und Produkte, die ihnen gefallen, später online kaufen, war in den Anfangszeiten des E-Commerce die Drohkulisse schlechthin. Heute ist Showrooming als Bestandteil einer Experience-getriebenen Customer Journey die Lösung für den Handel der Zukunft. Bei zeitgemäß konzipierten Stores hängt der Wertbeitrag in der Customer Journey nicht vom Kauf vor Ort ab. Ihre Aufgabe ist es, Marke und Produkte erlebbar zu machen, eine Community zu bilden. Crossover-Konzepte verbinden Handel mit Gastronomie-, Kultur- und Freizeitangeboten: Der Store wird zur Bühne, zum Campus, zur Galerie, zum angesagten Club.

Wie das im Idealfall funktionieren kann, zeigt Erewhon, der hippe Luxus-Lebensmittelhändler aus L.A., der als der profitabelste Supermarkt der Welt gilt. In den 1960-er Jahren als bescheidener Bioladen gegründet, hat sich Erewhon nach der Übernahme durch Tony und Josephine Antoci 2011 zu einem Community Hub für Anhänger des Healthy Lifestyles – darunter zahlreiche Influencer und Celebrities – entwickelt, und die Vorstellung vom Wesen eines Supermarkts grundlegend verändert. Die Anziehungskraft der Marke, die auf langsames Wachstum setzt und aktuell neun Filialen umfasst, reicht weit über hochwertige Bio-Lebensmittel, fotogene Smoothies und gesunde Snacks hinaus. Erewhon hat es geschafft, eine magnetische Club-Atmosphäre samt Café, Bar und eigenem Merch zu etablieren und sich als luxuriöser „dritter Ort“ zu positionieren, der eher beiläufig auch Lebensmittel verkauft.  

Vom Wandel der Orte: Multifunktionalität trifft Club-Atmo

Das Prinzip Erewhon lässt sich vom Retail auch auf andere Branchen übertragen, die unsere Innenstädte attraktiv und lebendig halten: Um Menschen anzuziehen, müssen Orte ursprünglich getrennte Funktionen wie Arbeit, Wohnen, Feiern, Sport, Shoppen, Gastronomie etc. im stimmigen Rahmen eines Social Clubs zusammenbringen. 

Einige konkrete Beispiele: Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden ins Büro locken wollen, sind gut beraten, ein Ambiente zu schaffen, das konkurrenzfähig zu den Vorzügen der eigenen Wohnung und des Lieblingscafés ist. Neben Rückzugsorten fürs konzentrierte Arbeiten sollte es Open Spaces mit Wohnzimmer-Vibe geben sowie lässige Koch- und Essbereiche statt steriler Kantinen-Atmosphäre. Sportstudios bieten seit einiger Zeit neben Saunalandschaft und Café auch Working Spaces an. So kann man zwischen zwei Remote-Meetings eine Runde Bouldern oder Boxen gehen – ein echter Mehrwert für die Work-Life-Balance. Fitnessanbieter wie die Spinning-Experten Hicycle oder Black Bike gehen einen anderen Weg, um auf Selbstoptimierung bedachte Millennials aus ihren Home Gyms in die Studios zu motivieren. Sie inszenieren Spinningklassen als Club-Events. Party Cycling oder Soul Cycling heißt der Trend, bei dem man sich bei Discolicht und mitreißenden Beats gemeinsam in Ekstase strampelt. 

Auch die Hotelbranche beginnt zu verstehen, dass sie in Zeiten von AirBnB ihrer Kundschaft mehr Erlebniswert bieten muss als ein komfortables Zimmer plus Lobby und Frühstücksbüffet. Erfolgsbeispiele dafür sind die Häuser der 25hours-Kette, die unter dem Motto „Kennst du eins, kennst du keins“ einen Kontrapunkt zur Uniformität typischer Business-Hotels setzen. Jeder der 25hours-Ableger, von denen es mittlerweile ein Dutzend gibt, erzählt von seiner Umgebung inspiriert eine eigene Geschichte und überrascht mit ungewöhnlichen Interior-Ideen und Experience-Formaten. So wird Kreativität skalierbar gemacht.

Aus den Gewerbegebieten zurück in die Innenstädte

Die Transformation der Innenstädte sorgt nicht nur für vielfältigere, flexiblere Konzepte bei den etablierten Playern, sondern ermöglicht es zudem Branchen, die vor Jahrzehnten durch die hohen Mietpreise in die Peripherie vertrieben worden sind, mit zeitgemäßen Angeboten ins Herz der Städte zurückzukehren. Wie man an vielen Orten schon erleben kann, findet das Handwerk wieder einen Platz, dort, wo zuvor Mode-Boutiquen und Schuhgeschäfte waren. Indem es Manufaktur mit Personalisierung und Nachhaltigkeit verbindet (wie z.B. der Küchenbauer oder die Schreinerei, die Möbel nach Maß anbieten), trifft es die Bedürfnisse der kaufkräftigen, urbanen Zielgruppen. Auch Baumärkte wie OBI, Toom oder Hagebau nutzen das Momentum aus Immobilienleerstand und gesellschaftlichen Trends wie DIY und Urban Gardening, um sich den Bedürfnissen der städtischen Kundschaft über Popup-Stores anzunähern. Autohäuser haben jetzt spannende Optionen, sich mit neuen Mobilitätskonzepten im urbanen Rahmen darzustellen und mit Experience-Konzepten Communities um ihre Marken herum zu aktivieren. Tesla und Mercedes waren hier Pioniere, Mitbewerber wie NIO oder Polestar ziehen nach.   

In den Citys darf wieder gewohnt werden

Und schließlich wird es wieder mehr Wohnraum im Herzen der Stadt geben und damit auch mehr Kitas und Schulen. Die Innenstadt braucht diese neue Stammkundschaft auch dringend, da die Zahl der Menschen, die täglich ins City-Office pendeln, sich weiter reduzieren wird. Die Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen schätzt, dass 40 Prozent der 14,8 Millionen Bürojobs in Deutschland langfristig zu Home-Jobs werden. 136 Millionen Quadratmeter Bürofläche werden dadurch frei.

Die Folgen des durch die Pandemie angestoßenen Homeoffice-Trends für Wirtschaft und Gesellschaft sind noch nicht gänzlich absehbar. Doch schon jetzt steht fest, dass die Fernarbeiter die Struktur der Städte stark verändern werden. Das schon seit längerem von Stadtplanern diskutierte Konzept der 15-Minuten-Stadt, entwickelt von dem Wissenschaftler Carlos Moreno, hat dadurch neue Aktualität bekommen. Anstelle von Städten mit getrennten Vierteln für Wohnen, Arbeiten und Freizeit sieht Moreno das urbane Zentrum als einen Organismus von einzelnen Quartieren, in denen sich sämtliche Grundbedürfnisse der Bewohner innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder per Fahrrad erfüllen lassen. Um möglichst viele Services und Aktivitäten in die Stadt zu holen, bietet sich die Mehrfachnutzung und Umwidmung von bestehender Infrastruktur an. So können Schulen nach dem Unterricht für Kultur zur Verfügung stehen, nicht mehr genutzte Gewerbeimmobilien zu Social Spaces mit Co-Working Areas, Gastronomie, Freiräumen für Sport und Erholung umfunktioniert werden. 

Fazit: Die aktuellen disruptiven Veränderungen bieten die Chance, unsere Städte wieder zu Orten zu machen, in denen Gemeinschaft, Handel, Kultur und Innovation zusammenkommen. Gewinnen werden Metropolen mit klugem Innenstadt-Management, großer unternehmerischer Kreativität und hohem Erlebnis-Faktor.


Zur Person

Dr. Marc Schumacher ist seit 1. November 2022 CEO der AVANTGARDE Group. Die 1985 gegründete Agentur mit 11 Standorten und 650 Beschäftigten hat sich auf Brand Experiences spezialisiert. Schumacher ist in Bremerhaven geboren, hat in Stuttgart BWL studiert und in Leipzig promoviert. Er hat in Führungspositionen bei Breuninger, dem Modehersteller Tom Tailor und dem Markenerlebnis-Dienstleister Liganova gearbeitet. Als Marketing-und Einzelhandelsexperte erstellt er Kommunikationskonzepte für Firmen wie Mercedes-Benz, Adidas oder Chanel. Schumacher gilt als frühzeitiger Erkenner von Trends und provokanter Keynote-Speaker.

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