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17. März 2024

Die Innenstadt ist tot – es lebe die Innenstadt!

EXKLUSIVER BEITRAG VON EINZELHANDELSEXPERTE PROFESSOR GERRIT HEINEMANN (HOCHSCHULE NIEDERRHEIN)
Prof. Gerrit Heinemann (Hochschule Niederrhein)

Die Headlines „Tote Hose in den Cities“ oder gar „Pleiteland Deutschland – der innerstädtische Einzelhandel krepiert“ titulieren eine unaufhaltsame Entwicklung, die nahezu alle Städte und Gemeinden erfasst. So beginnt Professor Gerrit Heinemann, einer von Deutschlands führenden E-Commerce-Forschern und profiliertesten Handelsexperten (Hochschule Niederrhein), seinen Beitrag im HI-HEUTE-Buch „TRANSFORMATION INNENSTADT – der große Wandel".

These 1: Deutsche Innenstädte befinden sich fast ausnahmslos im „Widerspruchs-Dilemma“

Kaum eine Stadt leidet nicht an einem Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Die Flüchtlingskrise verstärkt das akute Problem, ohne dass es auf absehbare Zeit Abhilfe gibt. Zugleich nimmt die Anzahl an Sozialwohnungen rapide ab, gleichzeitig steigen die Mieten ins Unermessliche. Während die Wohnungsnot zunimmt, steigt fast zeitgleich der Leerstand an Einzelhandelsflächen. Bei insgesamt real schrumpfenden Einzelhandelsumsätzen könnten mittel- bis langfristig noch einmal erhebliche Teile des stationären Non-Food-Umsatzes in das Internet abwandern, bis die voraussichtlichen Sättigungsgrenzen in allen Non-Food-Warengruppen von wahrscheinlich rund 50 % Online-Anteil erreicht sind.

An diese magische Grenze haben sich bereits Bücher, Elektronikprodukte, Spielwaren und annähernd Fashion-Produkte angenähert. Alle anderen Nicht-Lebensmittel-Warengruppen sind auf dem Weg dorthin, allerdings z.T. noch weit davon entfernt. Deswegen ist davon auszugehen, dass noch einmal rund ein Drittel aller Non-Food-Umsätze auf den Flächen verloren geht und damit der Leerstand dementsprechend weiter zunimmt. Nutzungsverordnungen und Baubürokratie begünstigen diese Entwicklung, da sowohl Flächenumbauten als auch Nutzungsänderungen nahezu unmöglich erscheinen.

Darüber hinaus sieht kaum eine Kommune nicht ihr Heil in autofreien Innenstädten. Als Vorbilder werden Städte wie Paris, Barcelona oder Ljubljana genannt. Autofreie Städte erfordern allerdings einen exzellenten ÖPNV (Öffentlichen Personen- und Nahverkehr), so wie es diesen in Deutschland wohl nur in Berlin gibt. Sämtliche Mobilitätskonzepte der Städte und Gemeinden sind in Deutschland bisher überwiegend mangelhaft oder scheitern an Geldmangel – so wie auch die dringen benötigten Radwegenetze.

Logische Folge ist eine stetige Abnahme der Innenstadtbesucher. In keiner Stadt werden nach der Pandemie die Frequenzen von 2019 erreicht. Reiselust, Cocooning und Homeoffice halten die Bürger aus den Innenstädten fern. Ihre Freizeitaktivitäten entfernen sich immer weiter weg vom Shopping in der City. Insgesamt werden zweifelsohne die Anforderungen an Städte immer größer, allerdings auch ihr Geldmangel.

Unterstützung durch Bundesländer und Bundesregierung ist nicht zu erwarten, wie die aktuelle Flüchtlingskrise zeigt. Durch die ausufernde Bürokratie, die von immer neuen Vorschriften und Gesetzen getrieben wird, werden die Aufgaben für Kommunen permanent komplexer, während der Personalmangel stetig größer wird. Immer mehr Stellen in der öffentlichen Hand sind nicht besetzt. Überdurchschnittliche Krankenstände in einigen Stadtverwaltungen vergrößern das Dilemma. Der Renteneintritt und die erleichterte Frühpensionierung der Boomer-Jahre-Generation dürfte das Problem in Zukunft noch erheblich verschärfen und zu nie dagewesenen Wartezeiten für Bürgerdienste führen. Fazit: Die Beibehaltung Status quo führt mittel- bis langfristig wahrscheinlich zu unlösbaren Problemen in den deutschen Städten und Gemeinden.

These 2: Der stationäre Einzelhandel hat seine Magnetfunktion für Innenstädte unwiederbringlich verloren 

Die meisten Städte gelten als hässlich und maximal versiegelt. Betonbauten aus den 70er und 80er Jahren prägen überwiegend das Bild, das aus der „Deichmannisierung“ oder „Starbuckisierung“ der Innenstädte mit immer wieder denselben Filialisten entstanden ist. Das Mietniveau der besten Einzelhandelslagen erreichte in Spitzenzeiten und Spitzenlagen deutlich über 300 EUR pro Quadratmeter pro Monat.

Der Wert von innerstädtischen Einzelhandelsimmobilien erreichte dabei das bis zu Vierzigfache der Mieteinnahmen, sodass selbst unspektakuläre und relativ kleine Häuser zweistellige Millionenbeträge wert waren. Dementsprechend diente eine Maximierung der Mieteinnahmen dem Vermögenszuwachs, sodass Innenstädte über Generationen hinweg regelrecht mietpreisgetriebene Anlageobjektversammlungen waren. Die eigene Immobilie galt für lokale Händler zudem als exzellente Altersversorgung. Reine Renditeobjekte prägten die Innenstädte, die selten grün und atmosphärisch waren. Aufenthaltsqualität zählte nicht, sondern die maximale Flächennutzung eines jeden Quadratmeters.

Aufgrund des zu hohen Mietpreisniveaus fehlten in den Innenstädten bisher vielfach Lebensmittel- sowie Nahversorgergeschäfte, die überwiegend in der Peripherie und/oder auf der grünen Wiese zu finden sind. Großflächige Formate wie u.a. Möbelhändler und Baumärkte waren ebenfalls bisher nicht in den Haupteinkaufsstraßen anzutreffen. Große Einkaufszentren, die häufig mit derartigen Fachmärkten kombiniert werden, kommen mittlerweile auf annähernd denselben Einzelhandels-Marktanteil wie die Cities, genauso wie die Online-Händler.

Nicht einmal mehr ein Fünftel aller Einzelhandelsumsätze entfällt noch auf die Innenstädte. Dementsprechend darf nicht verwundern, dass Shopping und Einkauf als Besuchsgrund einer City weit hinter Gastronomie, Veranstaltungen/Events, Kultur oder sonstigen Gründen (u.a. Verweilanlässe oder Bankbesuche) liegen, wie aktuelle IfH-Studien zeigen. Die bisherigen Ankermieter und Frequenzzieher wie z.B. die Warenhäuser von Galeria Karstadt Kaufhof kamen in 2022 nur noch auf einen Warenumsatz von 1,85 Mrd. EUR, was bei 131 Häusern einem Durchschnittsumsatz von gerade einmal 14 Mio. EUR entspricht.

Nach der letzten Insolvenz dürften die verbleibenden Umsätze noch niedriger ausfallen. Mit 32,1 Mrd. EUR Gesamtumsatz und rund 4.000 Filialen zieht eine durchschnittliche ALDI-Filiale demnach mit rund 8 Mio. EUR Durchschnittsumsatz mittlerweile mehr Frequenz als ein durchschnittliches großes Warenhaus, da deren Kassenbons mehr als doppelt so hoch wie im LEH sind. Fazit: Shopping stirbt in der Innenstadt – Bedarfsversorgung findet außerhalb von Städten statt.

These 3: Innenstädte können nur unabhängig vom Einzelhandel der Abwärtsspirale entgehen

Etliche Haupteinkaufsstraßen sind nicht mehr von einer deutschen Kultur geprägt, sondern weisen mehrheitlich eine Bevölkerung mit Migrationshintergrund auf, so wie u.a. in Mönchengladbach-Rheydt oder Oberhausen mit bis zu 70 Prozent Bevölkerungsanteil. Die Anzahl an Dönerläden ist folgerichtig und sollte nicht infrage gestellt werden. Allerdings prägen immer mehr Schundläden, Spielbuden oder „fremdartige Studios“ viele ehemalige Haupteinkaufsstraßen.

Die Johannesstraße in Osnabrück ist bestes Beispiel für den aktuellen Zustand einer ehemaligen Top-Einkaufsmeile, die mittlerweile von Tattoo-, Nagel- und Haarverlängerungsstudios sowie Schmuckankauf-, Bares-für-Wahres- und Gemischtwaren-Shops geprägt werden. Auch Tedi & Co., Pepco, KiK, Takko, NKD sowie Wettbüros und immer mehr Secondhand-Läden zeigen den Abwärtstrend einer typischen Fußgängerzone – nicht selten abgerundet durch Beerdigungsinstitute und Waffengeschäfte. Für eine Shopping-Stadt haben wahrscheinlich nur noch die 82 größten der insgesamt rund 12.000 Städte und Gemeinden das Potenzial, also die mit mehr als hunderttausend Einwohnern.

Zugeständnisse der Vermieter und Änderungen der Baunutzung sind zur Lösung der innerstädtischen Probleme zwingend notwendig. Damit könnte eine Versorgungsfunktion geschaffen sowie Service- und Bürgerangebote in zentraler Lage angeboten werden. Bürgerbüros, Kitas, Supermärkte usw. scheitern bisher allerdings am immer noch zu hohen Mietpreisniveau. Dabei gehören zentrale Services in die Innenstädte und nicht auf die grüne Wiese so wie vielfach auch Kranken-/Ärztehäuser, Pflege- und Seniorenheime. Darüber hinaus macht die grundsätzliche Trennung zwischen Gewerbegebieten und Innenstädten keinen Sinn mehr, da das Gewerbe heute sauber ist. Zudem kann das Handwerk die Innenstädte beleben und mit eigenen Showrooms und Geschäften Leerstand füllen. Dass viele Mieter allerdings anonym oder nicht identifizierbar seien, ist Ausrede von Stadtverwaltungen oder zumindest ein Versäumnis, dass es zu beseitigen gilt. Fazit: Leerstehende Einzelhandelsflächen lassen sich nicht wieder mit Händlern füllen. Neue Lösungsansätze erfordern ein Absenken des Mietpreisniveaus.

These 4: Obwohl es nur einer Grundsatzentscheidung bedarf, sind Best Practices bisher die Ausnahme

Historische und touristische Städte sind in den IfH-Studien „Vitale Innenstädte“ immer wieder Sieger: Leipzig, Münster, Quedlinburg oder Goslar. Städte mit Universitäten und Hochschulen in der Innenstadt haben in der Regel weniger Probleme und bleiben lebhaft so wie u.a. Regensburg, Münster oder Tübingen. Städte im europäischen Ausland, so wie zum Beispiel Maastricht oder Roermond in den Niederlanden, tun sich mitunter leichter mit pragmatischen Lösungen.

Sie nutzen auch mehr die Ihnen gegebenen Durchgriffsrechte wie u.a. Mietpreisvorgaben oder sogar Enteignungen, was deutsche Städte auch könnten, aber vielfach unterlassen. Kooperative Lösungen in Gemeinschaftsinitiative sind erfolgreicher als bloße Verordnungen. Die ISI (Initiative starke Innenstadt) in Münster zeigt, wie es geht. Zweifelsohne begünstigen große Einzugsgebiete Städte und Gemeinden mit hohen Zentralitäten wie u.a. Fehmarn, Zweibrücken, Passau, Straubing oder Kaiserslautern, Würzburg oder Trier. Dabei macht es wenig Sinn, dass Städte gegeneinander arbeiten.

Sachdienlich ist eine Arbeits- und Rollenverteilung zwischen nahen Groß-, Klein-, Mittelstädten – so wie in München mit den vielen kleinen Wohnstädten à la Aying, Erding oder Eching ringsum. Lieber eine schöne Wohnstadt als eine hässliche Einkaufsstadt. Aufenthaltsqualität ist das neue Zauberwort, das nur mit Grünflächen und Kultur umsetzbar ist.

Dabei kann Kunst eine Schlüsselrolle spielen. Die Rolle der Kunst im öffentlichen Raum wird vielfach unterschätzt oder aufgrund mangelnder Visionskraft nicht genutzt. Bilbao ist Best Practice und nutzte die Chance, sich mit der Kunst neu zu erfinden. Auch wenn die Lizenzgebühren zur Nutzung der Guggenheim-Namensrechte geschätzt über 300 Mio. EUR sowie das neue Museum noch einmal rund 150 Mio. EUR gekostet haben dürften, haben sich diese Investitionen zweifelsohne gelohnt. Der „Bilbao-Effekt“ ist in Fachkreisen eine gerne zitierte Formel. Fazit: Jede Stadt sollte seine Nische finden, statt der sinnlosen Vision als Einkaufsstadt nachzulaufen.

These 5: Für die Neuerfindung der Innenstadt reichen bereits gemachte Erfindungen und Erfahrungen

Es könnte sich lohnen, einmal in die Geschichtsbücher zu schauen. Städte im Mittelalter hatten keine Geschäfte, sondern funktionierende Marktplätze und Wohnraum. Städte der Vorzeit hatten innerstädtisches Gewerbe. In Zünften oder Gilden organisierte Handwerksmeister, nicht nur Fleischer, Bäcker oder Schuster, sondern auch Schmiede- oder Baumeister waren in der Innenstadt angesiedelt. Sogar Großstädte hatten Grünflächen. Erhaltene Parks in New York, Dublin, London, Paris und Berlin stammen nicht aus der Neuzeit. Daran können Städte sich orientieren. Zudem gibt es viele Beispiele für zukunftsfähige Einzellösungen. Immer mehr Städte erkennen, dass komplette Handelsnachnutzungen für leerstehende Warenhäuser mit bis zu 20.000 Quadratmetern auf bis zu fünf Etagen völlig unrealistisch geworden sind und auch innerstädtische Shopping-Center-Lösungen das Problem eher vergrößern, da sie die noch bestehenden Einzelhandelsflächen zusätzlich erodieren. Recklinghausen zeigt, wie ein ehemaliges Warenhaus als Hotel, KITA und Pflegestation in einem „Mixed-Use-Konzept“ attraktiv ausgestaltet werden kann, statt jahrelang als leerstehender Hohlkörper die Innenstadt zu verschandeln.

Einzelhandel dürfte dabei allenfalls noch für das Basement und das Erdgeschoss in Betracht kommen. So wie in Düsseldorf im ehemaligen Kaufhof an der Berliner Allee umgesetzt mit einem EDEKA-Markt. Ab dem 1. Obergeschoss sind dort nur noch Parkflächen, Büros sowie Wohnungen zu finden. Auch in Hamm, Osnabrück oder Oldenburg gibt es gute Beispiele. Dort gibt es in den oberen Etagen u.a. eine Bücherei, die städtische Volkshochschule, eine Dependence der Universität sowie ein Hotel, Co-Working-Spaces oder eine Kita. Auch Mittelstädte wie u.a. Goslar oder Quedlinburg scheinen viele Dinge richtig zu machen.

So weist Goslar nach letzter IfH-Studie die höchste Weiterempfehlungsquote an Freunde und Bekannte auf – eine der wichtigsten Kenngrößen für die Attraktivität von Städten. Sie haben offensichtlich erkannt, dass die Bürger nicht nur Intensiv-Shopper sind, sondern als Menschen auch Grundbedürfnisse haben und einfach nur Erwartungen an Sauberkeit, Sicherheit, Fußgängerfreundlichkeit, Sitzmöglichkeiten sowie bezahlbare Toiletten stellen. Angebote für Freizeit, Kultur, Gastronomie, Dienstleistungen und Parkmöglichkeiten sind wichtig für sie. London, Münster und Paris zeigen, dass attraktive Städte Einkaufsmöglichkeiten und Verweilatmosphäre kombinieren können. Grün gehört auch dazu – statt immer nur Beton und Versiegelung. Fazit: Flächen lassen sich vielfältiger nutzen als mit Einzelhandel. Neuartige Mixed-Use-Konzepte geben Anlass zur Hoffnung.

Zweifelsohne kommt Städten und Gemeinden, wo eben auch die meisten Menschen leben und arbeiten, eine Schlüsselrolle für die Gesellschaft zu. Die Verödung von Innenstädten bedeutet deswegen auch immer eine unmittelbare Verschlechterung der Lebensbedingungen und ist unmenschlich. Dass dieses als Erkenntnis in den meisten Stadtverwaltungen angekommen ist, sollte angenommen werden. Dennoch scheitert es immer wieder an der Umsetzung, die ohne ausreichende finanzielle Mittel nicht möglich ist. Daran ist keineswegs das föderalistische Prinzip Schuld, sondern die stetige Unterwanderung eben dieses dezentralen Ansatzes.

Denn zunehmend bekommen die Kommunen von Bund und Ländern Probleme und Aufgaben zugeschoben, die sie weder verursacht noch mit ihren Budgets lösen können. Die aktuelle Diskussion über die Bewältigung der Flüchtlingsszahlen zeigt das Dilemma, das in erster Linie durch den Verstoß des Konnexitätsprinzips entstanden ist. Demnach wird sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene permanent gegen den Grundsatz im Staatsrecht verstoßen, wonach Aufgaben- und Finanzverantwortung jeweils zusammengehören. Die Instanz, die über eine Aufgabe entscheidet, sollte eigentlich auch für die Finanzierung dieser Aufgabe zuständig sein. Und sie sollte haftbar gemacht werden können für die Nichterfüllung ihrer Aufgaben, die vor allem auch in der Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse wie Lebensqualität, Sicherheit und bezahlbarer Wohnraum liegt. 

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