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23. August 2021

"Stadtgestaltung braucht keine kurzweiligen Moden"

JULIA ERDMANN DENKT MIT SOCIALTECTURE STÄDTE NEU. IM INTERVIEW ERKLÄRT SIE, WARUM PROJEKTENTWICKLUNGEN SCHON VIEL FRÜHER MIT DER PHASE -1 BEGINNEN SOLLTEN.
Julia Erdmann geht neue Wege in Architektur und Stadtplanung, um die Städte ur-ur-ur-enkeltauglich zu machen. Foto: JES

Die Architektin Julia Erdmann ist die Begründerin von Socialtecture. Mit diesem Ansatz sollen Innenstädte und Quartiere neu gedacht und zu lebendigen, nachhaltigen Orten werden. Ihre Firma JES Socialtecture GmbH ist deshalb gleichzeitig Architektur- und Urban Design Studio, Kommunikationsagentur und Forschungslabor, Unternehmensberatung und Think Tank. Das interdisziplinäre Team tritt auf dem Plan, wenn es darum geht, verhunzte Innenstädte zu retten. Im Interview spricht der Kreativkopf hinter JES über ihren neuen Ansatz und warum es so wichtig ist, in der Stadtplanung neue Wege zu gehen, die ur-ur-ur-enkeltauglich sind.

Sie sind die Begründerin von Socialtecture, das sich aus den englischen Begriffen für „Social Life“ und „Architecture“ zusammensetzt: Können Sie einmal erläutern, welche Denk- und Herangehensweise sich hinter diesem Kunstwort verbirgt?

Socialtecture steht für eine neue Disziplin und für einen neuen Weg in der Stadt- und Projektentwicklung. Im Kern geht es darum, Orte nicht nur als gebaute Hülle (-tecture) zu verstehen, sondern als lebendigen Organismus. Neue Herausforderungen mit Socialtecture anzugehen, bedeutet, alltägliches menschliches Zusammenleben zu verstehen und daraus abzuleiten, wie die gebaute Umwelt gestaltet sein sollte – und nicht umgekehrt. Im Grunde können Sie sich das vorstellen wie das Zusammenspiel von Hardware und Software. Was nutzt Ihnen das beste Gerät, wenn das Betriebssystem fehlt? Um Social- und -Tecture sinnvoll zu vereinen, arbeiten wir als JES-Team interdisziplinär und verbinden Wissen aus Feldern wie Architektur, Stadtplanung, Kommunikation, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Technologie. Der Socialtecture-Prozess lebt von vielen unterschiedlichen Perspektiven, von inhaltsgetriebenen Dialogen und davon, dass alle Beteiligten auf Augenhöhe miteinander arbeiten. Co-Kreation, also gemeinsam in einem strukturierten Prozess Neues zu gestalten, ist daher ein wesentlicher Bestandteil von Socialtecture.

Ihr anderer Blick auf Architektur wurde vor allem an der Columbia University geprägt: Was hat den dortigen Blickwinkel so unterschieden im Vergleich zu Ihrem Studium in Hamburg?

Meine Zeit an der Columbia University hat die Weichen gestellt für die Art und Weise, wie ich heute über die Gestaltung von Städten und Stadträumen denke. Entscheidend war, dass ich dort gelernt habe, die Phänomene des Stadtlebens zu studieren. Es ging immer darum, zunächst zu beobachten und zu verstehen, wie Orte ticken und ´patterns of human life´ zu beobachten, bevor es an das Entwerfen von Architektur ging. In meinem Kopf hat es damals richtig „Klick“ gemacht und ich habe das erste Mal verstanden, warum es wichtig ist, nicht sofort zu entwerfen. Das war ein großer Unterschied zu der Art und Weise, wie ich mein Fach in Hamburg gelernt habe. Socialtecture, die Verbindung von baulicher Hülle und sozialem Leben, ist heute die Grundlage von allem, was wir mit JES tun.  

Was Socialtecture in der Praxis bedeutet, dass lässt sich unter anderem am geplanten „Europahafenkopf“ in der Bremer Überseestadt beobachten. Was wird hier anders gemacht als bei vergleichbaren Projekten?

Begonnen hat das Projekt schon nicht mit einem klassischen Architekturwettbewerb, sondern mit einer Ideenmeisterschaft, die zu einem tiefen Verständnis des Ortes und im Ergebnis zu dem erstklassigen Entwurf des skandinavischen Architekturbüros Cobe geführt hat. Sie können bereits beobachten, wie Tag für Tag die Gebäude wachsen. Derzeit sind wir aber schon in einer neuen Phase des Entstehungsprozesses, die wir „Placemaking“ nennen, das Machen des Ortes. Der Europahafenkopf hat rund einen Kilometer Erdgeschosse! Unsere Aufgabe ist es, die Angebote zu kuratieren, die den Ort in Zukunft ausmachen. Dafür haben wir unter anderem eine eigene Placemakerin in Bremen, eine großartige Netzwerkerin aus unserem JES-Team, die aus der Stadt kommt und sie in der Tiefe kennt. Die Fragen sind hier, wie auch bei unseren anderen Projekten: „Was ist typisch für den Ort? Was soll hier entstehen? Wer passt hierher? In welcher Atmosphäre sollen sich Menschen hier schon bald begegnen?“. Das Ziel ist, nicht „Gewerbeflächen zu bespielen“, sondern Menschen zu finden, die mit ihrem Geschäft, ihrer Gastronomie hier genau richtig sind und gemeinsam mit anderen, in einer gewerblichen Nachbarschaft, den Ort zu einem guten Ort machen wollen. Dafür finden wir auch Lösungen und Modelle mit den Mieter:innen, die für beide Seiten ökonomisch sinnvoll und machbar sind. Das ist nur ein Beispiel für Placemaking, es gibt noch viele weitere!

Chance, wirklich nachhaltig zu agieren


Den Strukturwandel im Einzelhandel und den damit verbundenen Wandel der Innenstädte haben Sie einmal als "Jahrhundertchance" bezeichnet: Was meinen Sie damit?

Jetzt ist der Moment, uns grundsätzlich zu fragen: Wie wollen wir leben? Und wie wollen wir unsere Zukunft in den Städten gestalten? Ein Wandel zeichnet sich schon lange ab, jetzt werden die veränderten Anforderungen und Bedürfnisse sichtbar, verstärkt durch eine Pandemie und die Herausforderungen des Klimawandels. Wir haben jetzt die Chance, Bestehendes in Frage zu stellen und wirklich nachhaltig zu agieren. Das bedeutet für mich, ur-ur-ur-enkeltauglich zu denken. Nachhaltig ist nur, was der nächsten Generation nicht schadet. Stadtgestaltung braucht keine kurzweiligen Moden, sondern weit in die Zukunft gedachte, kluge Konzepte. Und Konsum im bisherigen Sinne ist dabei bestimmt nicht die Antwort auf die Frage, wie Innenstadt zukünftig für die Menschen wertvoll wird und bleibt. Stadtzentren sollten sich wieder mehr zu kompakten, lebendigen Quartieren entwickeln, in denen gleichzeitig gewohnt, gearbeitet, produziert gelernt, eingekauft und Freizeit verbracht wird.

Sie und Ihr Team arbeiten mit einem interdisziplinären Expert:innen-Netzwerk. Warum ist das wichtig, wenn es um Immobilien- und Stadtentwicklungsprojekte geht?

Damit sprechen Sie einen essenziellen Bestandteil unserer Arbeit an. Die großen Aufgaben unserer Zeit sind so komplex, dass sich gute, zukunftsfähige Lösungen nur gemeinsam entwickeln lassen. Wenn ich es schaffe, ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und die fachliche Expertise von Menschen zu vernetzen, die sich in ihrem jeweiligen Bereich richtig gut auskennen, dann ist das Ergebnis immer besser, durchdachter, klüger als wenn man sich nur auf sein eigenes Knowhow und die eigene Sicht der Dinge verlässt. Einstein hat mal gesagt, dass man Probleme niemals mit derselben Denkweise lösen kann, durch die sie entstanden sind. Dieses Dilemma lösen Sie immer auf, wenn sie unterschiedliche Menschen co-kreativ einbinden. Das ist eigentlich ganz logisch, wird aber in der Immobilien- und Stadtentwicklung noch kaum gemacht.

Bei Ihren Aufträgen beleuchten Sie dementsprechend ein Projekt von allen Seiten: Können Sie das Vorgehen einmal kurz erläutern? Auf welche Aspekte kommt es besonders an, welche Fragen stellen Sie, die andere nicht stellen?

Wichtig ist ja zunächst, überhaupt Fragen zu stellen und nicht sofort zu glauben, die Antworten parat zu haben. Eine der ersten Fragen, die wir erkunden, ist: Was ist typisch für diesen Ort, diese Nachbarschaft, diese Stadt, diese Region? Ein neues Gebäude, ein Quartier oder Stadtteil soll kein Fremdkörper sein, sondern ein natürlicher Bestandteil seiner Umgebung, ein Teil werden von dem Organismus, der bereits vorhanden ist. Und wir fragen immer: Was für ein Ort kann hier entstehen? Nicht im Sinne von Gebäuden, es wird viel zu schnell in Architektur gedacht. Sondern: Was kann hier passieren? Wie werden Menschen ihn benutzen? Wie und wo begegnen sie sich? Was trägt der Ort bei zum Leben, gedacht aus dem Alltag der Menschen? So entstehen im nächsten Schritt eine Architektur und eine Nutzung, die passend ist und es können wirklich starke, resiliente Orte wachsen.

Mit der Phase -1 gegen seelenlose Quartiere


Sie starten mit der Phase -1 bei Ihrer Arbeit, womit Sie auf die Nummerierung der Leistungsphasen der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure anspielen. Spiegelt das Ihren Eindruck wider, dass Sie bei Projekten häufig zu spät involviert wurden, wenn eigentlich schon alle Weichen gestellt wurden?

Wir machen uns dafür stark, dass die Bedeutung des Schrittes, bevor entworfen, geplant und gebaut wird, mehr ins Bewusstsein der Verantwortlichen rückt. Hier werden die Grundlagen gelegt für alles, was später entsteht. Wir alle kennen Gebäude, die wie Fremdkörper wirken, Orte, die nicht genutzt werden, Ladenflächen, die leer stehen, seelenlose Quartiere, in denen Menschen sich nicht um ihre Umgebung kümmern. Wir bauen renditeoptimierte Gebäude, die aussehen wie Excel-Tabellen und machen aus Innenstädten Finanzprodukte. Und dann wundern wir uns, dass keine Lebendigkeit entsteht. Genau deshalb beginnen wir in der Phase -1.

Durch Ihren Ansatz wird die Vorbereitung von Projekten intensiver, zeitaufwendiger und damit sicherlich auch teurer: Wie blicken Investoren und Projektentwickler auf Ihr Konzept?

Wir arbeiten mit Investoren und Projektentwicklern zusammen, ebenso wie direkt mit Bauherren und Kommunen. Natürlich ist es zunächst aufwändiger, eine Phase vorzuschalten. Aber am Ende ist der gesamte Prozess dadurch schneller, effizienter und bringt mehr Wert. Orte werden wertvoller und werthaltiger. Es entstehen gute, gesunde, lebendige Orte, die langfristig funktionieren.  Uns ist völlig klar, dass Rendite am Ende des Tages ein wichtiges Kriterium ist. Wenn durch die Phase -1 strategisch klar ist, was entstehen soll, wenn es ein Leitbild gibt, an dem sich alle orientieren könnten, dann entwickelt sich alles, was darauf aufbaut, ganz natürlich und das Ergebnis ist ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltiger.

Denken Sie, dass aktuell ein Umdenken in der Stadtplanung stattfindet?


Ich beobachte, dass das langsam beginnt. Vieles von dem, was bisher funktioniert hat, funktioniert nicht mehr. Die Pandemie hat als Verstärker gewirkt. Stadt ist kein Ego, sondern ein Gemeingut und sollte deshalb auch gemeinsam mit den Akteuren gedacht werden, die Stadt ausmachen. Wir sehen, dass co-kreative Prozesse auf Augenhöhe zunehmend in die Stadtgestaltung einziehen, aber noch lange keine Selbstverständlichkeit sind. Auch die Belange der nächsten Generationen rücken, vor allem durch den Klimawandel, mehr in den Fokus. Jugendliche und junge Erwachsene müssen einen selbstverständlichen Platz in stadtgestalterischen Prozessen bekommen, da ist noch viel Umdenken erforderlich. Diese Gruppe ist schwer zu erreichen durch die klassischen Beteiligungsinstrumente, daher brauchen wir hier zum Beispiel attraktive digitale Tools. Es gibt viel zu tun!

"Socialtecture für Kommunen" in der Stadtretter-Akademie

Wer mehr über über Socialtecture erfahren möchte, der hat ab Dienstag, 14. September, die Gelegenheit dazu. Dann startet die gleichnamige Reihe in der Stadtretter-Akademie mit insgesamt vier Lerneinheiten, wobei ein tiefer Einblick in den innovativen Ansatz von Referentinnen Indra Musiol, Geschäftsführerin bei JES, und Isabella Biermann, Urban Designerin und Kulturwissenschaftlerin, vermittelt wird. 

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